Reisenotizen

15.10.2024
Vietnam
Migration, Lebensberichte

Marina, die zurzeit zusammen mit Bianca und Marianne in Vietnam lebt, erzählt von einer Reise, die sie ins zentrale Hochland Vietnams führte. So konnte sie den Hintergrund vieler junger Binnenmigrantinnen und -migranten, die in Ho Chi Minh City wohnen, kennenlernen.

P. Thong überraschte uns mit einer last-minute-Einladung: eine gemeinsame Reise in die zentrale Hochebene Vietnams. Gerne sagten wir zu, denn viele unserer jungen Bekannten stammen aus dieser Region. Aufgrund von  Studium und Arbeit leben sie aber in Ho Chi Minh City.
Wir waren ein besonderes Team: Pater Thong, Schwester Raycee und ich. Alle drei gehören wir als Missionar, Ordensschwester und ich als Mitglied des Säkularinstitutes zur Scalabrini-Familie, drei unterschiedliche Ausformungen einer gemeinsamen Spiritualität. Es gab kein festgelegtes Programm, im Mittelpunkt stand die Begegnung mit jungen Freunden und deren Familien. Wir wollten ihre Herkunftsorte und ihre Umgebungen, sowie uns unbekannte Regionen kennenlernen. Die Migration in Vietnam nimmt konstant zu, innerhalb des Landes wie auch international. Sie wird aber kaum thematisiert. Die prophetische Sichtweise G.B. Scalabrinis kann diesbezüglich einen wertvollen Beitrag leisten.

Auf dem Weg Richtung Norden
Nachdem wir die Hektik von Ho Chi Minh City hinter uns gelassen haben, schlängelt sich die Route durch Städte, Dörfer und kleine Siedlungen. Die Landschaft wird hügeliger, die Erde rot, die Vegetation üppiger. Und bald schon sind wir in der Provinz Đắk Nông auf der Hochebene von M'Nong.
Jetzt präsentiert sich uns ein ganz anderes Bild als im Süden von Vietnam, wo es ausnahmslos flach ist. Hier hingegen gibt es Hügel- und Bergketten, Flüsse, Wasserfälle, Seen, tropische Regenwälder und dazu ein angenehm kühles Klima. Wir können gut verstehen, wie schwierig und ermüdend es für die Menschen wird, wenn sie von hier aus in die heiße Millionenstadt ziehen.
Inmitten der grünen Plantagen voller Kaffee, Pfeffer- und Kautschuk ragt auf einer Anhöhe eine rosafarbene Kirche hervor. Unsere Neugierde ist geweckt und bald schon begrüßt uns der Pfarrer. Die Vielfalt der Landschaft spiegelt sich auch in der menschlichen und sozialen Zugehörigkeit wider: Wir erfahren, dass 90 Prozent der Gemeindemitglieder ethnischen Minderheiten angehören. Der Pfarrer lädt uns ein wiederzukommen. Wir bedanken uns für die herzliche und unerwartete Begegnung.

Familienbesuche
Wir haben keine Zeit, lange zu bleiben und die Landschaft zu bewundern, denn Thểs Familie wartet schon auf uns. Gleich zu Beginn bietet man uns Tee an, während das Abendessen mit lokalen, kulinarischen Spezialitäten vorbereitet wird. Gastfreundschaft gehört fest zur vietnamesischen Kultur! Thể, das zweite von drei Kindern, studiert Theologie. Bald schon wird er deshalb nach Bogotá in Kolumbien reisen. Er freut sich sichtlich, nicht nur über unsere Anwesenheit, sondern vor allem über den Weg, den er bald in Scalabrinis Fußspuren antritt. Am nächsten Morgen um 5.00 Uhr nehmen wir an der Eucharistiefeier in der Pfarrei teil. Gemeinsam mit der Gemeinde danken wir Gott für seine Treue und beten für die neue Etappe im Leben von Thể.
Am Nachmittag fahren wir zu einem anderen Ort im selben Bezirk. Die asphaltierte Straße ist teilweise unbefestigt. Die Landschaft ist mit einfachen Ziegel- oder Holzhäusern mit Stroh- oder Bambusrohrdächern übersät, links und rechts viele Kinder unterschiedlicher ethnischer Minderheiten. Wir erreichen das Haus von Minh. Nach diesem Urlaub zu Hause wird er in Rom sein Studium fortsetzen.
Die Kirche gleich nebenan ist aus Holz, ganz im typischen Stil der lokalen Häuser. Minh erklärt uns, dass sie gebaut wurde, als der Preis für Pfeffer hoch war. Der Erfolg der Ernte ist für die lokale Entwicklung maßgeblich und entscheidend. Wir sitzen noch mit den Jugendlichen in lockerer Atmosphäre zusammen. Sie sind neugierig auf uns und schmunzeln über unsere ausländischen Akzente.
Über holprige Straßen geht unsere Reise weiter Richtung Đăk Săk. Spät abends kommen wir bei Trungs Familie an. Nach einer Tasse Tee werden wir in die extra für uns vorbereiteten Zimmer begleitet. Als ich in der Nacht aufwache, sehe ich die Silhouetten zweier kleiner Jungen, die auf dem Boden unter einem Moskitonetz schlafen: Trungs jüngere Brüder haben uns ihr Bett überlassen. Am frühen Morgen stellen wir auch hier in der vollbesetzten Kirche unsere Spiritualität und unser Leben als Migranten mit Migranten vor.

Der nächste Halt ist in der Provinz Đắk Lắk. Auch hier gibt es eine große Vielfalt ethnischer Minderheiten. In einigen Pfarreien und in verschiedenen kleinen Kapellen, die verstreut und versteckt in der Landschaft liegen, wird die Messe auch in der Sprache einer ethnischen Minderheit, der Banhar gefeiert.

Im Grenzgebiet zu Laos und Kambodscha
Als nächstes möchten wir einen Ferienort in den Bergen erreichen. Er liegt ungefähr 140 km hinter Kon Tum, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz an der Grenze zu Laos und Kambodscha. Auf der immer enger werdenden Straße sehen wir junge Frauen mit ihren Säuglinge in den typischen bunten Stoffschärpen, spielende Kinder, andere weiden Kälber und Ochsen. Vor uns breitet sich eine hügelige Landschaft aus, Gebirgszüge von großer Schönheit, Plantagen voll Reis, Kaffee und anderen Nutzpflanzen.
Gegen Abend erreichen wir unser Ziel. Es ist bereits dunkel. Anh, der diese unzugängliche Gegend gut kennt, übernimmt das Steuer und fährt uns zur Kapelle. Auch hier gehört die große Mehrheit der Gläubigen verschiedenen ethnischen Gruppen an und die Ministranten tragen ihre traditionellen Trachten. Es ist beeindruckend zu sehen, wie Kinder, Jugendliche, Mütter mit ihren kleinen Kindern im Arm, Männer und alte Menschen sich zur Feier versammeln. Am Ende der Eucharistiefeier werden wir auch hier gebeten, über die Spiritualität Scalabrinis zu sprechen. Wir können erleben, wie sehr sie es schätzen, dass wir hier sind und ihnen damit auch zeigen, dass wir ihre sprachliche und kulturelle Verschiedenheit als Reichtum erachten. Nicht immer dürfen sie das in ihrem Alltag erleben. Auch wenn unsere Sprache holprig ist, so gelingt uns eine Unterhaltung und wir alle spüren, dass wir trotz unserer Verschiedenheit tief miteinander verbunden sind.
Wir sind bei der versammelten Familie von Anh zum Essen eingeladen. Vor zwanzig Jahren war er aus der nordvietnamesichen Provinz Ninh Bình nach Đăk Sao ausgewandert. Fast alle Familien, denen wir auf unserer Reise begegnet sind, stammen ursprünglich aus anderen Provinzen Vietnams. So sagte auch ein Mann beim Verlassen der Messe in Nâm N'Jang: »Wir sind alle Migranten«. Er meinte damit nicht nur die einheimische Bevölkerung, sondern auch den universellen Charakter des Menschen, der uns alle verbindet.

Reich beschenkt
Früh morgens treten wir wieder den Rückweg an. Wir teilen uns die Straße mit vielen Traktoren, auf deren Anhängern Männer oder ganze Familien sitzen. Sie sind auf dem Weg zur Feldarbeit. Und wie viel mehr gäbe es noch zu erzählen über unsere Begegnungen in Pleiku, in Đăk Lăk...
Der Aufenthalt in Đức Minh öffnet uns ein Fenster auf das kommende zweitägige Treffen junger Menschen aus der Erzdiözese Huế. Choreographien werden eingeübt, Lieder geprobt, Zelte aufgebaut und die ganze notwendige Infrastruktur vorbereitet. Wir sind herzlich eingeladen, daran teilzunehmen. Erwartet werden rund 5000 junge Menschen. Und bei unserem Halt in Đắk Song, wo wir einen jungen Mann treffen, der sich für ein missionarisches Leben unter Migranten interessiert, wird von Thểs Mutter unser Kofferraum mit Avocados, Bananen und Süßkartoffeln gefüllt.
Tief beeindruckt und reich beschenkt von den Menschen, Geschichten und den unterschiedlichsten Landschaften kehren wir zurück. Wir sind vor allem dankbar für die herzliche Gastfreundschaft und die einzigartige Offenheit, die wir von allen erfahren durften, die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt, die wir kennen gelernt haben und für das gemeinsame Unterwegssein als »Scalabrini-Familie« in Vietnam.