Reise Richtung Süden

03.11.2022
Vietnam
Ho Chi Minh, Junge Erwachsene, Migration, Lebensberichte

Bianca, Marianne und Marina leben schon länger in Vietnam. Es sind die Menschen mit ihren Geschichten, die ihnen das Land und seine Kultur näher bringen. So erfuhren sie auch vom Leben einer Familie, die wie viele andere nach 1945 vom Norden in den Süden zog.

Zum ersten Mal begegneten wir Nguyễn Thi Bích Ngọc an der Staatlichen Universität für Human- und Sozialwissenschaften in Ho Chi Minh City. Sie studierte dort Italianistik. Zufällig entdeckten wir, dass sie ganz in unserer Nähe wohnte. Und so trafen wir uns öfters. Ihr Name »Ngọc« heißt auf Italienisch »Gemma«, zu Deutsch »Juwel«. Sie lacht, wenn sie an der Uni oder auch von uns »Gemma« gerufen wird.

Von ihr lernten wir ein bisschen Vietnamesisch, sie half uns sogar, einige Lieder der Scalabrini-Band zu übersetzen und unterstützte uns bei den monatlichen Jugendtreffen. Auch nach dem Abschluss ihres Studiums und ihrem Umzug in die Stadtmitte freuten wir uns, dass unser Kontakt weiter bestehen blieb. Sie war maßgebend daran beteiligt, dass eine erste Ausgabe von »Auf den Wegen des Exodus« auf Vietnamesisch entstehen konnte.

Vor einiger Zeit fragte sie uns, wie sie zum 70jährigen Ehejubiläum ihrer Großeltern eine Segensurkunde des Papstes erhalten könne. Wir setzten alles in Bewegung und schafften es tatsächlich: Rechtzeitig zum Fest kam die Urkunde in dem kleinen Dorf im Süd-Westen des Landes an. Feierlich wurde sie während der Eucharistiefeier vorgelesen. Anschließend erzählte uns Gemma die Geschichte ihrer Großeltern, die ursprünglich aus dem Norden Vietnams kommen.

»Hánh trình Nam tiế« oder:  Reise Richtung Süden

»Meine Großeltern sind beide in einer Bauernfamilie geboren. Sie stammen aus Du Hieu, einem Dorf am Meer im Red River Delta. Mit dem westlichen Kolonialismus waren auch die ersten katholischen Missionare nach Vietnam gekommen. Das Dorf meiner Großeltern war eines der ersten, in denen diese Missionare aufgenommen wurden. Viele nahmen den christlichen Glauben an und wurden katholisch. So entstanden in dieser Gegend viele Pfarrgemeinden.

Es herrschte Krieg und die ganze Bevölkerung im Norden des Landes wurde von einer schrecklichen Hungersnot getroffen. Die Familie meiner Großmutter hatte Glück, alle überlebten. Bei meinem Großvater war es anders. 1945 starben zwei jüngere Geschwister, sein zehnjähriger Bruder und seine siebenjährige Schwester.

1954 wurde mit dem Genfer Abkommen das Land in zwei Teile geteilt: Nordvietnam und Südvietnam. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt konnten die Bewohner selbst entscheiden, in welchem Teil sie leben wollten. Viele aus Du Hieu entschieden sich, in den Süden zu ziehen, in der Hoffnung ein neues Leben beginnen zu können.  So auch ein Bruder und eine Schwester meines Großvaters, während der Rest der Familie im Norden blieb.

Nach dem 30. April 1975 wurde das Land endlich wiedervereint. So machte sich mein Großvater zusammen mit einem seiner Söhne auf, seine beiden Geschwister im Süden zu besuchen und reiste ins Mekong-Delta. Er war beeindruckt von der üppigen Natur, vom günstigen Klima und dem fruchtbaren Boden, von den ertragreichen Reisplantagen, den Flüssen und Kanälen voller Fische, von den grünen Gemüse- und Obstgärten. Außerdem gab es in dieser Region, in der viele Katholiken lebten, auch mehrere Kirchen. Es schien ihm ein ‹verheißenes Land› zu sein. So ließ er seinen Sohn bei seinen Geschwistern, um in den Norden zurückzukehren und seine Frau und die anderen Kinder in den Süden zu holen.

Diese Entscheidung war sehr riskant. Obwohl viele Bedenken hatten, ließen sich meine Großeltern nicht davon abbringen, ihren Plan zu realisieren. Sie verkauften alles und begannen ihre Reise Richtung Süden. Damals waren die Verkehrsmittel noch ganz anders als heute. Sie mussten ihren Weg in vielen Etappen und auf unterschiedliche Weise zurücklegen. Manchmal galt es stunden- oder sogar tagelang an einer Zug- oder Bushaltestelle zu warten, um ein Ticket zu bekommen und zusammen weiterreisen zu können.  Für die Passagiere gab es fast keinen Platz, sie saßen zwischen Koffern, Harken, Schaufeln und anderen Arbeitsgeräten, neben Küchenutensilien, Töpfen und Tassen... Die Mitreisenden waren alt und jung, hatten unterschiedliche Berufe und kamen aus dem Norden und der Mitte des Landes. Alle waren auf dem Weg in ein neues Leben: Neben dem Wenigen an Hab und Gut waren Sorgen und Unsicherheiten, aber auch Hoffnung und Mut mit im Gepäck.

Nach einer 1600 km langen Reise, die ungefähr eine Woche dauerte, kam die Familie im Süden an. Für die Eltern und die acht Kinder war die erste Zeit sehr schwierig. Unermüdlich und mit großer Willenskraft versuchten meine Großeltern Tag für Tag die Lebensbedingungen der Familie zu verbessern. Der Arbeitstag war lang, der Schlaf wenig. Jede noch so harte Arbeit auf dem Feld wurde angenommen und das bei Sonne oder Regen.

Das stete Gebet, ein tiefes Gottvertrauen und die Liebe zu Maria gaben der Familie Kraft, immer neue Schwierigkeiten zu überwinden. Nach und nach verbesserte sich die Lebenssituation. Die Kinder wuchsen heran und Dank der Liebe ihrer Eltern konnte ihr Leben reifen. Sie gründeten selbst Familien und bald kamen zur Freude aller Enkel und später Urenkel dazu.

Inzwischen können sich meine Großeltern nicht mehr so gut wie früher an alles erinnern. Jedes Mal aber, wenn Kinder und Enkel sie nach ihrer Vergangenheit fragen, tauchen aus der Tiefe ihrer Herzen zwei Dinge auf: die Erinnerungen an den vom Krieg verursachten Schmerz und Verlust sowie die Erfahrung harter Arbeit aufgrund der Armut.

Dank ihrer Erzählungen und durch ihr Leben darf ich heute erfahren, was Liebe eigentlich bedeutet: das eigene Leben verschenken, hoffen und vertrauen. Von meinen Großeltern kann ich lernen, dankbar zu sein - für alles und in jeder Situation. Sie hoffen darauf, dass wir, ihre Enkel und Urenkel und alle, die nach uns kommen, das weiterleben: Liebe, Solidarität, Dankbarkeit und Vertrauen Gott gegenüber. Und dass wir darin wachsen.»

»Es ist gut,
die Routine durch das Fest zu unterbrechen,
nicht die Fähigkeit zu verlieren, in der Familie zu feiern,
sich zu freuen und die schönen Erfahrungen festlich zu begehen,
gemeinsam über die Gaben Gottes zu staunen und
gemeinsam die Begeisterung für das Leben zu nähren.
Wenn man zu feiern versteht,
 erneuert diese Fähigkeit die Energie der Liebe,
befreit sie von der Eintönigkeit und
erfüllt die Alltagsroutine mit Farbe und Hoffnung.«

(vgl. Amoris laetitia Nr. 226)

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