Unsere Berufung in der Welt der menschlichen Mobilität
Für niemanden ist es automatisch wahrzunehmen, wie sich der Heilsplan Gottes für die Menschheit schrittweise verwirklicht. So vieles scheint unablässig ein Miteinander in der Verschiedenheit zu untergraben oder gar zu verhindern, so vieles wirkt entmutigend und kann sogar denjenigen die Hoffnung rauben, die sich persönlich dafür einsetzen, dass unsere Welt menschlicher und „gastfreundlicher“ für alle wird. Wenn wir nur von unserem eigenen Sehvermögen ausgehen, bleiben wir schnell an der Oberfläche hängen und meinen, dass das Negative über das Gute zu siegen scheint.
Als Scalabrini-Missionarinnen sind wir dazu berufen, das Leben mit Migranten und Flüchtlingen zu teilen und in die multikulturelle Gesellschaft gleichsam einzutauchen. Dabei erfahren wir, dass wir nur durch eine kon-templative Sicht auf die Welt, die bereits vorhandenen Spuren von universeller Gemeinschaft, von „Communio“, erkennen können . Kon-templation bedeutet, die Welt mit Gott, mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus zu betrachten. So können wir voll Staunen die Zeichen eines echten Miteinanders entdecken, Zeichen, die trotz allem schon erkennbar sind.
Hat sich eigentlich seit dem Osterereignis Jesu überhaupt etwas in der Welt verändert? Diese Frage ist berechtigt, gibt es doch heute wie damals Krieg, Unrecht, Konflikte, Krankheit, Leid und Ablehnung …? Es hat sich aber etwas Grundlegendes geändert, nämlich dass Gott selbst all diese Erfahrungen mit uns geteilt und miterlebt hat. Größer kann Liebe nicht sein. Aber das ist noch nicht alles: Der gekreuzigte Gott ist nicht einer unter den vielen Gekreuzigten geblieben, sondern er ist auferstanden. Tod und Auferstehung sind seither im Ostergeheimnis auf untrennbare Weise verbunden. Die Konsequenz ist enorm: Jede noch so schmerzhafte Situation, jeder Widerspruch, jede Ablehnung, kurzum alles, was wir aus der eigenen Geschichte und der der Menschheit löschen wollten, steht nun in Beziehung zu Ihm, zu seinem Ringen zwischen Tod und Leben. So hat das letzte Wort die Liebe, die für immer jede Form von Trennung und Hass besiegt.
Der gekreuzigte und auferstandene Jesus ist Leben, Aufbruch, Exodus. Er ist der Ausweg aus all dem, was den Menschen niederdrückend in sich selbst verschliesst, was ihn demütigt und beschämt. Er ist der Weg in ein neues, lebendiges Miteinander in der Vielfalt. Zwischen Menschen und Völkern hat er sozusagen die Wege der Kommunikation geebnet. Im Gekreuzigten und Auferstandenen erreicht Gott aus Liebe den Menschen in seinen dunkelsten Abgründen. Bis in den Tod steigt er herab, dorthin, wo es scheinbar keinen Ausweg mehr gibt, um für alle zum Weg in ein neues Leben zu werden. Der Auferstandene ist der Erstgeborene einer neuen Menschheit, die dem Plan Gottes ganz entspricht. Sein Geist, sein Leben voller Liebe, ist nun auf endgültige Weise mit dem Lauf der Geschichte verbunden. Mit Ihm wird es auch heute für uns möglich, diesen befreienden Weg zu gehen.
„Mit-Schauen"
Wenn wir unsere Augen auf dieses Geheimnis richten, so schärft sich unser Blick, und wir werden mit der Zeit diese neu entstehende Menschheit erkennen können. Wir werden dazu befähigt, auch in den kritischen Momenten des Aufeinandertreffens von unterschiedlichen Kulturen und Religionen nicht die Schmerzen eines Todeskampfes zu sehen, sondern die Wehen einer Geburt, an der die ganze Menschheit beteiligt ist: Neues Leben kommt ans Licht, ein Leben, das dem Plan Gottes entspricht, ein Fest der Freude für alle (vgl. Röm 8,18-25).
So kann Kon-templation, also dieses „Mit-Schauen“ ganz einfach bedeuten, alles und jeden mit Liebe zu betrachten, mit Bewunderung, ja, mit Hoffnung und Wertschätzung: die anderen und uns selbst aber auch das Wirken Gottes in der Geschichte, in der Welt und in den Menschen. Es kann bedeuten, dass wir voll Glaube und Staunen seinen liebevollen Blick, das Geheimnis seiner Gegenwart wahrnehmen.. Ihm verdanken wir unsere Existenz, und immer wieder schenkt Er uns einen Neuanfang. Er verzeiht uns und verweigert uns nie Seine Liebe. Kontemplation geht vom vollen Vertrauen Gott gegenüber aus, Gott, dem nichts unmöglich ist.
Als Mitglieder eines Säkularinstitutes leben wir unsere Weihe an Gott mit den Gelübden der Armut, der ehelosen Hingabe an Gott und des Gehorsams. Wir tragen dabei keine äußeren Zeichen und teilen das Alltagsleben in den unterschiedlichsten Milieus der multiethnischen Gesellschaften von heute. Unseren Dienst an der Welt möchten wir aus dieser kontemplativen Sicht heraus leben, mit einem Blick, der voll Wertschätzung und Hoffnung auf dem anderen ruht und ihn in seiner Verschiedenheit fördern will.
Was immer man dann auch für den anderen tut, es wird seiner Einzigartigkeit und Besonderheit zugutekommen und zwar durch eine Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Oft kann schon ein wohlwollender Blick die überraschende Kreativität der Liebe auslösen. Mit ihr wird es möglich, im Dienst am Einzelnen und der Menschheit neue und unerwartete Wege zu gehen.
Um unsere multiethnische Gesellschaft auf ein neues Fundament zu stellen, brauchen wir vor allem den Mut, uns zu verändern: unseren Blick und unsere Art und Weise miteinander umzugehen. Man kann vieles für den anderen tun, wenn dies aber von oben herab geschieht, dann fühlt sich der andere nur gedemütigt. So verändert sich auch nichts Wesentliches in unserer Gesellschaft. Die Diskrepanz zwischen einheimisch und fremd, zwischen denen, die bestimmen und den Stimmlosen, bleibt bestehen.
Bei unserer Berufung kommt es darauf an, Kontemplation und Aktion miteinander zu verbinden und aus dieser Haltung heraus unser Leben und Wirken in Gesellschaft und Welt zu gestalten. Dies ist aber nur möglich, wenn wir überall den verborgenen Schatz suchen: den Geist des gekreuzigten und auferstandenen Christus, der schon präsent ist. Er ist am Werk und möchte den Plan Gottes zur Vollendung bringen. Er spornt uns an, daran mit zu wirken, die Keime eines neuen Miteinanders ans Licht zu bringen und wachsen zu lassen.
Ein unscheinbares Ja
Am Anfang unserer Geschichte stand gerade dieses Bewusstsein. Ausschlaggebend für das Entstehen unserer Gemeinschaft vor 50 Jahren in Solothurn (CH) war nicht die Antwort auf eine soziale Notsituation, sondern die Antwort auf diese ganzheitliche, allumfassende Gottes-, d.h. Liebeserfahrung.
Adelia Firetti, eine junge Lehrerin aus Piacenza (Norditalien) war der Einladung der Scalabrini-Missionare gefolgt: Es sollte eine Schule für die Kinder der italienischen Migranten eröffnet werden. Allerdings kam das Schulprojekt nicht zustande, da es im letzten Moment Schwierigkeiten gab mit den zuständigen Behörden. In dieser Situation spürte Adelia jedoch, dass es in ihrem Leben um eine tiefere Entscheidung ging. Sie wollte ihr Leben ganz in der Beziehung mit Gott verankern. Es war eine Begegnung der Liebe, die sie in die bedingungslose Nachfolge Jesu rief.
Diese Antwort auf die Liebe Gottes, die eine Freude auslöste, die nichts und niemand mehr nehmen konnte, jenes Vertrauen auf Gottes Hand, in die wir immer wieder unsere Unzulänglichkeit legen, bildet bis heute den Kern unseres Lebens und Einsatzes. Dabei sind Kontemplation und Gebet „der lebendigste, stärkste und mächtigste Teil“ unseres Lebens und unserer Sendung. Sie schenken uns die Freude und den Wunsch, am Plan Gottes mitzuarbeiten und uns dafür einzusetzen, dass die Gemeinschaft zwischen Menschen und Völkern wächst.
Die Gelübde werden dabei zum Freiraum, der auf das Leben Jesu verweist, der als Sohn sein ganzes Vertrauen in den Vater setzte. Er ist der Einzige, der in der Welt - wie „Salz und Hefe“ – eine Veränderung von innen heraus bewirken kann. Er allein kann wirklich Antwort geben auf die tiefe Sehnsucht eines jeden Menschen nach echten Beziehungen und nach einem erfüllten Leben.
An der Schnittstelle verschiedener Kulturen und Sprachen
Die Chancen und Schwierigkeiten an der Schnittstelle verschiedener Kulturen und Sprachen prägen heute das Leben vieler Menschen. Auch ich konnte sie am eigenen Leib erfahren. Ich wurde in Basel geboren, aber meine Eltern waren italienischer Herkunft. Als Kind war es für mich wie ein Spiel, mich zwischen der deutsch-schweizerischen und der italienischen Kultur hin und her zu bewegen.
Als sogenannte „secondo“ begann auch ich während meiner Pubertät, der „Zeit des Aufbegehrens“, in besonderem Masse nach meiner Identität zu suchen. Ich fragte mich: Bin ich Schweizerin oder Italienerin? Manchmal fühlte ich mich wie zwischen zwei Stühlen, ohne zu wissen auf welchen ich mich setzen sollte. Eigentlich spürte ich, dass beide Identitäten zu mir gehörten, aber auf horizontaler Ebene schien es keine Alternative zu geben, nur ein entweder – oder. Gerade dieses Hin und Her spornte mich an, ernsthafter zu suchen. So entdeckte ich, dass das, was mich mit dem anderen verbindet, keine oberflächliche Identität ist, wie z.B. den gleichen Pass zu besitzen, die gleiche Sprache zu sprechen, dieselben Ideale zu haben - Gemeinsamkeiten, von denen aber immer jemanden ausgeschlossen bleibt – sondern dass es eine viel tiefere Identität gibt, nämlich die die, Söhne und Töchter Gottes zu sein. Sie umfasst alle Menschen und setzt unsere Verschiedenheiten in Beziehung, ohne sie zu vernichten. So erkannte ich, dass keine Kultur Absolutheitsanspruch hat, sondern alle relativ sind. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als ein Mittel, das uns erlaubt, mit anderen in Beziehung zu treten.
So durfte ich durch das, was ich eigentlich gerne aus meiner Geschichte ausradiert hätte, was mir „fremd“ vorkam, die universale und persönliche Liebe Gottes erfahren. Dieses Balancieren zwischen zwei Kulturen forderte mich dazu heraus, nicht an Äusserem hängen zu bleiben, an Identitäten, die uns nicht sagen können, wer der Mensch wirklich ist, sondern unsere tiefste Identität neu zu entdecken und zwar die, Kinder Gottes zu sein.
Bei all dem müssen wir aber auch bedenken, dass man leicht missverstanden werden kann, wenn man von der Kind-Gottes-Beziehung spricht, nämlich dann, wenn man z.B. von einer pathologischen Kind- bzw. Vatererfahrung ausgeht, wie sie die Psychoanalyse beschreibt, oder von einer persönlichen Erfahrung, die ja auch extrem negativ sein kann. Unser Verständnis „Kind Gottes“ zu sein, könnte leicht verwechselt werden mit einem infantilen Lebensstil, mit einem Leben, das noch nicht reif genug ist, selbst Entscheidungen zu treffen und das sich gar von der unterdrückenden väterlichen Autorität emanzipieren muss, um die eigene Freiheit leben zu können.
Kind-Gottes-Beziehung
Wenn wir jedoch die Evangelien lesen, zeigt sich sofort, dass die Beziehung Vater-Sohn bei Jesus ganz anders zu verstehen ist. Und nur von ihr ausgehend, können wir verstehen, was es auch für uns bedeutet, als „Söhne und Töchter im Sohn Gottes“ zu leben. Jesus hat uns nicht nur eröffnet, wer Gott wirklich ist, nämlich Liebe, Gemeinschaft – und dies nicht nur in Bezug auf uns Menschen, sondern Gott ist Gemeinschaft, Beziehung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Er hat uns auch eröffnet, wer der Mensch ist, wer wir sind und worin der Sinn unseres Lebens liegt. Der Sohn Gottes ist ja das Urbild des Menschen. In ihm hat sich unser „Mensch-Sein“ ganz erfüllt. Für uns bedeutet dies: Je wichtiger Gott in unserem Leben ist, je lebendiger unsere Beziehung zu Gott Vater wird, desto freier werden wir als Menschen, desto authentischer und erfüllter wird unser Leben. Jesus ist Mensch geworden. Man könnte also sagen, dass wir alle dazu berufen sind, echte Menschen zu werden wie Er, denn nach seinem Bild wurden wir erschaffen. Es ist befreiend zu wissen, dass wir unser Leben lang echte Menschen werden dürfen, die so frei sind, ein „Mit“ und „Für“ zu leben, wie der Sohn Gottes.
Mit der Eucharistie wird uns Tag für Tag das Geheimnis einer unglaublichen Verwandlungsmöglichkeit wortwörtlich in die Hände gelegt.
In ihr wird uns das Leben Jesu geschenkt, seine Beziehung zum Vater, sein Tod und seine Auferstehung, diese Dynamik der Liebe, die uns zutiefst mit Gott und unseren Mitmenschen verbindet. Die Eucharistie ist nicht dazu bestimmt, nur im Tabernakel eingeschlossen zu bleiben. Durch ihre Kraft der Hingabe, der Vergebung und des Teilens möchte sie uns und die Gesellschaft auf allen Ebenen verwandeln, möchte sie neue Beziehungen und somit Gemeinschaft erwirken.
Wenn Gott uns erschaffen hat, damit wir seine Söhne und Töchter sind – so wie es im Brief an die Epheser steht (1,4-5) – wenn wir also nicht für einen anderen Zweck ins Leben gerufen wurden, dann ist unsere Beziehung zu Gott dem Vater kein künstlicher Zusatz im Leben, sondern der Sinn jedes Menschen auf jedem Lebensweg.
Indem wir Gott „Vater unser“ nennen dürfen, führt er uns hinein in sein eigenes Leben, in sein Miteinander in der Verschiedenheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dies ist die Grundlage für unser friedliches Miteinander – so verschieden wir auch sein mögen.
Die Beziehung zu Gott ist untrennbar verbunden mit der Beziehung zu den anderen Menschen. Bedeutsamerweise hat uns Jesus gelehrt, „Vater unser“ zu sagen und nicht „Vater aller“. Darin drückt sich unsere tiefe Verbundenheit mit jedem Menschen aus. Wenn der andere, dem wir in unserem Alltag begegnen, für uns nicht nur ein Problem, eine Nummer, ein Patient, ein Kunde ist, sondern jemand, der zu mir gehört, ähnlich wie meine „Angehörigen“, also meine Mutter, mein Vater, meine Geschwister, mein Freund …, dann würden sich bestimmt viele politische, berufliche und soziale Entscheidungen verändern zugunsten des Menschen und des Miteinanders!
Agnese Varsalona
Links:
Zeitschrift Auf den Wegen des Exodus (ARCHIV)
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