Eine Grammatik der Begegnung

11.12.2020
Stuttgart (D)
von Róża Mika und Christiane Lubos
Migration

Seit dem 11. Dezember 1990 bieten wir Scalabrini-Missionarinnen in Stuttgart einen Deutschkurs für MigrantInnen und Geflüchtete an, der sich im Laufe von 30 Jahren zu einem Abenteuer der Begegnung entwickelte. Dafür danken wir in diesem Rückblick.

»Allen bin ich alles geworden« (1 Kor 9,22), dieses Bekenntnis des heiligen Paulus wurde auch für den seligen Bischof Scalabrini zum Leitmotiv. Er hörte nie auf, sich für Benachteiligte zu interessieren und sich mit ganzer Kraft für sie einzusetzen. Aus seiner tiefen Gottesbeziehung heraus erkannte er nicht nur die Not der Menschen seiner Zeit, sondern suchte ihr entgegenzuwirken, wo immer es ihm möglich war. Auch wir Scalabrini-Missionarinnen sind dazu berufen, den Schwächeren der Gesellschaft unsere Aufmerksamkeit zu schenken und die Zeichen der Zeit zu verstehen. Unser Charisma bringt uns dazu, immer wieder neue und kreative Möglichkeiten zu suchen.

Unser Start in Stuttgart-Bad Cannstatt

So wohnen wir seit unserer Ankunft in Stuttgart 1968 in Bad Cannstatt, in einem Stadtteil Stuttgarts mit besonders hohem Ausländeranteil. Wenn wir hier durch die Straßen gehen, hören wir die verschiedensten Sprachen: Türkisch, Griechisch, Italienisch, Arabisch, Serbisch, Chinesisch, Kroatisch ... und natürlich neben Deutsch den schwäbischen Dialekt.

Die Sprache des Ankunftslandes zu lernen, ist von größter Wichtigkeit, auch um sich nicht so fremd zu fühlen. So wurde im Dezember 1990 in den Räumen der Pfarrei St. Martin ein Deutschkurs ins Leben gerufen. Er fand im Auftrag der Diözese Rottenburg Stuttgart und in Zusammenarbeit mit der örtlichen Caritas statt. Christiane Lubos, die erst wenige Monate zuvor in die Gemeinschaft eingetreten war, und Lina Cesena leiteten den Kurs. Die Teilnehmer kamen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern: z.B. aus dem Iran, dem Libanon, der Türkei, aus Pakistan, Vietnam, Ägypten, Eritrea und Äthiopien. Wie heute konnte man auch damals an der Herkunft der Teilnehmer ablesen, wo auf der Welt Konflikte schwelen.

Deutschkurse in der Brückenstraße

Was für ein eigenartiger Zufall, dass der Unterricht über viele Jahre hinweg in der Brückenstraße stattfand1Es geht uns ja vor allem darum, sprachliche und menschliche Brücken zwischen Geflüchteten, Institutionen und Pfarreien zu bauen. Von Anfang an war es unser Traum, dass dieser Deutschkurs ein Ort sein solle, an dem die »Kultur der Begegnung« und nicht der Ausgrenzung sich entwickeln und intensiv gelebt werden kann. So suchen wir zu verwirklichen, dass gerade Dank der Vielfalt ein gutes Miteinander möglich ist. Diese Intuition miteinander und aneinander zu wachsen ist uns als Scalabrini-Säkularinstitut sehr wichtig und mit uns allen, die am Kurs teilnehmen oder ihn unterstützen: Migranten und Geflüchtete, Ehrenamtliche aus den Pfarrgemeinden, Studierende, Schülerinnen und Schüler. Jeder wirkt auf seine Weise an der Verwirklichung dieser Aufgabe mit. Und im Teilen von Zeit und Anstrengung gewinnt ein jeder von uns.

Es kam und kommt sogar nicht selten vor, dass Kursteilnehmende mit einem schon guten Sprachniveau selbst unterrichten und das Erlernte weitergeben. Aber auch im Unterricht bietet sich oft die Gelegenheit, sich helfend auszutauschen: Fortgeschrittene unterstützen diejenigen, die noch nicht so weit sind. Sogar wer sich schwer tut, leistet einen wichtigen Beitrag durch seine Geduld, Ausdauer und Demut - und nicht selten mit Humor!

Begegnungen auf Augenhöhe

Seit Beginn war der Kurs von Begegnung auf Augenhöhe geprägt. Wenn auch das Sprachniveau und die Lebenserfahrung der Teilnehmenden sehr verschieden sind, tragen alle dazu bei, dass jede und jeder in der deutschen Sprache weiterkommen kann. Darüber hinaus wächst man im Umgang untereinander und erlernt und übt eine Grammatik der Begegnung. Offenheit und gegenseitige Wertschätzung verbreiten ein Klima, das trotz der Schwierigkeiten hilft, am Lernen dranzubleiben und gleichzeitig hilfreich bei den täglichen Herausforderungen im fremden Land werden kann.

Lernende wie Lehrende erleben, dass sie willkommen sind. Das gibt allen den Mut, den anderen offen gegenüber zu treten, sogar über sich selbst hinauszuwachsen und die eigene Begrenztheit als Chance für eine Begegnung zu verstehen.  Die Sprache zu beherrschen ist für uns nicht das einzige Ziel, sondern sie ist vor allem ein Mittel, um mit anderen in Beziehung zu treten und sich über das eigene Leben austauschen zu können. Anerkennung und Menschlichkeit wachsen so mit jedem neuen Treffen.

Immer wieder werden Feste gefeiert, oder jemand bringt auch ohne besonderen Anlass ganz spontan für alle einen Kuchen oder eine Spezialität aus seiner Heimat mit. Aber es kam auch schon vor, dass Teilnehmer das Lernmaterial für andere kauften, die es sich nicht leisten konnten, dabei aber ungenannt bleiben wollten. Ja, sogar Gedichte über das gute Miteinander im Kurs wurden verfasst und mutig vorgetragen.

Einmal erlebten wir, wie eine Teilnehmerin am Ende des Unterrichts ihren gesamten Einkauf einer ehrenamtlichen Lehrerin schenkte. Sie hatte erst im letzten Moment erfahren, dass diese in die Ferien fuhr und wollte am Ende des Schuljahres etwas schenken. Wie viel Menschlichkeit zeigt sich in diesen kleinen Gesten!

Der Einzelne steht im Fokus

Diese Vertrautheit baut sich langsam auf, denn jeder konzentriert sich natürlich zuerst auf sein Lernen, die eigenen Aufgaben und die Herausforderungen der neuen Sprache, die es zu überwinden gilt. Manche Teilnehmenden hatten noch nie in ihrem Leben eine Schule besucht, es aber immer geschafft ihre Familie auch in schwierigsten Zeiten zu schützen und durchzubringen. Nun fangen sie sprachlich bei null an. Aber das Alphabet für ein harmonisches Zusammenleben und –lernen unter Menschen so unterschiedlicher kultureller, religiöser und sozialer Herkunft müssen alle ganz neu lernen.

Dabei gibt es nicht einmal eine gemeinsame Sprache, auf die man sich stützen könnte. Für uns ›Lehrende‹ bedeutet dies, dass wir uns nicht mit dem Erreichten zufriedengeben können. Wir versuchen, nicht nur die Gruppe im Ganzen weiterzubringen, sondern uns immer wieder jedem Einzelnen persönlich zuzuwenden, damit er mit den anderen Schritt halten kann. Dafür ist es wichtig, seine Anfragen im Blick zu behalten und auch dem Tempo, mit dem er Lernerfolge erreichen kann, Rechnung zu tragen. Dabei wird nicht nur das Selbstvertrauen des Einzelnen unterstützt, durch das gegenseitige Kennenlernen wächst auch Vertrauen. Unsere Besuche in den Flüchtlingsunterkünften oder Wohnungen tragen ebenfalls dazu bei. So entsteht im Deutschkurs immer mehr Zusammenhalt.

Die traurigen Erfahrungen wie Krieg, Flucht, Entmutigungen im neuen Land, Distanz zur zurückgebliebenen Familie, oft erfolglose Suche nach Arbeit... wirken auch in den Unterricht hinein. Immer wieder bietet sich die Gelegenheit, sich in den anderen einzufühlen und Freude und Kummer auszutauschen.

Von Zeit zu Zeit geschehen kleine Wunder! Wenn eine 50jährige Analphabetin anfängt, erste Worte zu verstehen und nach einiger Zeit sogar selbst einen kleinen Text verfasst - ist das nicht wunderbar? Oder wenn Teilnehmende, die anfangs distanziert, ja, manchmal aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit misstrauisch sind, einander schätzen lernen und sich sogar gegenseitig Komplimente machen - ist das nicht wunderbar? Das bedeutet aber nicht, dass man den gemeinsamen Weg plötzlich und automatisch frei von Hindernissen gehen kann. Es gibt weiterhin gelegentlich hitzige Diskussionen in den Klassenzimmern.

Ein neuer Blick

Auch wenn die Migranten und Geflüchteten nun in einem sicheren Land leben, so sind ihre Wunden noch nicht vernarbt. Sie können manchmal aufbrechen, wenn am Nachbartisch jemand sitzt, dessen Gruppierung in der Heimat als Feind gilt. Trotzdem beobachten wir, dass viele Menschen nach und nach beginnen, einander mit neuen Augen anzusehen.Wir werden nie eine syrische Frau aus einer sehr wohlhabenden Familie vergessen. Sie konnte perfekt Arabisch, aber einmal in Deutschland angekommen, musste sie von vorne anfangen: zuerst das deutsche Alphabet, dann die Sprache, die ungewohnte Artikulation ... Eine Anstrengung, die niemals zu enden schien, besonders, wenn man schon ein fortgeschrittenes Alter erreicht hat, und das Lernen nicht mehr so leichtfällt. Ihre Tochter erzählte uns dann aber eines Tages: »Wenn meine Mutter in der Stadt ist, bleibt sie immer wieder stehen und liest die Namen von Geschäften, Gemüsesorten, Straßen und Transportmitteln. Das war ihr alles bisher unverständlich. Ihre Augen strahlen dabei glücklich über den Fortschritt und die Möglichkeit, sich ein bisschen mehr zu Hause zu fühlen«.

Auch für uns sind die Begegnungen mit Menschen so unterschiedlicher Nationalität, Kultur und sozialer Situation bereichernd. Viele von ihnen haben sich durch Opfer und mit Risiken für die Freiheit ihres Landes eingesetzt oder tragen tiefe Verletzungen davon, weil sie und ihre Verwandten wegen ihrer religiösen Überzeugung oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt wurden. Es sind Menschen, die hautnah erfahren mussten, was es bedeutet, wenn kein Friede herrscht!

Versöhnung ist möglich

Der Kirche geht es um den Menschen, um den Einzelnen. Schon Papst Johannes Paul II. betonte in seiner Enzyklika Redemptor hominis (Nr. 14), »Unser Weg ist der Mensch«. Und wenn wir diese Aussage beherzigen, leuchtet uns in allen Menschen das Ostergeheimnis auf. Wir öffnen uns für den Schmerz und die Freude des anderen und treten mit ihm in eine echte Beziehung. Das ist viel mehr als eine erfüllte Pflicht oder ein moralischer Imperativ. Wir können dabei immer auf Gottes Mitwirken vertrauen, denn unsere Kraft allein genügt nicht. Der Geist des Auferstandenen wirkt ja zwischen allen Menschen guten Willens gleich welchen Credos – auch wenn die Welt, wie es der Apostel Paulus ausdrückt – noch in Geburtswehen liegt. Von uns wird die Bereit-schaft erwartet, mit Weitsicht unseren Teil zum Besseren beizutragen. Ebenso braucht es Geduld, damit Fortschritte im Guten möglich sind, selbst wenn sie sich erst in Zukunft zeigen werden.

Wir können uns helfen der Vielfalt unter den Menschen Rechnung zu tragen und jedem Einzelnen achtsam zu begegnen. Wenn wir dem anderen wirklich zuhören, dann schauen wir ihn mit anderen Augen an, dann vertieft sich unser Blick auf ihn, aber sogar auf uns selbst. Dann kann Versöhnung geschehen – nicht nur im Deutschkurs.

Róża und Christiane

 

[1] Erst Anfang 2020 wurde der Unterricht vom Gemeindehaus St. Martin in das Gemeindehaus von St. Rupert, einer anderen Gemeinde der Seelsorgeeinheit verlegt.

 

Links:

Zeitschrift  Aud den Wegen des Exodus (PDF)

 

Ähnliche Blogartikel

12.12.2023

Internationalen Bildungszentren, Junge Erwachsene, Migration, Lebensberichte

Zeitschrift AWE

»Auf den Wegen des Exodus« ist eine Zeitschrift, die den Dialog und die Begegnung zwischen ganz unterschiedlichen Menschen fördern will.

Weiterlesen

03.11.2022
Vietnam

Ho Chi Minh, Junge Erwachsene, Migration, Lebensberichte

Reise Richtung Süden

Bianca, Marianne und Marina leben schon länger in Vietnam. Es sind die Menschen mit ihren Geschichten, die ihnen das Land und seine Kultur näher bringen. So erfuhren sie auch vom Leben einer Familie, die wie viele andere nach 1945 vom Norden in den Süden zog.

Weiterlesen

03.11.2022
Polen

Aktuell, Migration

Starke Solidarität in Polen

Seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Polen von allen europäischen Ländern die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Laut Statistik des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden 1,5 Millionen Menschen offiziell registriert und mindestens die gleiche Zahl überquerte die Grenze für kürzere oder längere Zeit, ohne um Unterstützung zu bitten. In den ersten beiden Augustwochen konnten Róża und Giulia Geflüchteten und Helfenden vor Ort begegnen.

Weiterlesen