Starke Solidarität in Polen
Seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Polen von allen europäischen Ländern die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Laut Statistik des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden 1,5 Millionen Menschen offiziell registriert und mindestens die gleiche Zahl überquerte die Grenze für kürzere oder längere Zeit, ohne um Unterstützung zu bitten. In den ersten beiden Augustwochen konnten Róża und Giulia Geflüchteten und Helfenden vor Ort begegnen.
Von Łomianki nach Warschau
Die erste Etappe unserer Reise führte uns nach Łomianki in der Nähe von Warschau. Wir wollten die Situation vor Ort kennen lernen und für einige Tage das Leben mit den Menschen teilen. Die kleine internationale Gemeinschaft der Consolata-Missionare nahm uns dort sehr herzlich auf. Bald schon begegneten wir in der Pfarrei St. Margareten ehrenamtlich Tätigen, die zwei Tage vor Kriegsbeginn einen gemeinnützigen Verein gegründet hatten. Sofort wurde dieser zu einem »Hilfezentrum für die Ukraine«. Sechzig Freiwillige aus der Pfarrei und über achtzig Schülerinnen und Schüler und Studierende engagieren sich dort. Sie nehmen die Flüchtenden in Empfang und betreiben auch einen kleinen Laden, in dem man gratis Lebensmittel und Hygieneartikel erhalten kann. In den ersten Monaten war die Nachfrage so groß, dass die Anlaufstelle ganztags geöffnet war. Im Sommer wagten dann aber viele Flüchtlinge die Rückkehr in die Heimat, der Bedarf wurde geringer und der Laden öffnete nur noch vormittags. Für Schülerinnen und Schüler bedeutete das aber das Ende ihres Freiwilligeneinsatzes. So wandten sie sich mit einer Petition an die Verantwortlichen… und hatten Erfolg: Heute helfen sie am Nachmittag mit, den Laden aufzuräumen und zu putzen. Was für ein wertvoller Dienst!
In Łomianki begegneten wir Oksana. Sie stammt aus der Ukraine und lebt bereits seit einigen Jahren in Polen. Früher arbeitete sie als Haushaltshilfe im Seniorenbereich. Nach Kriegsbeginn half sie dann bei einem Verein einen Kindergarten zu organisieren. So können die ankommenden Mütter Zeit finden, Polnisch zu lernen und Arbeit zu suchen. Gemeinsam mit ihrem Sohn und einigen Psychologinnen eröffneten sie auch eine Anlaufstelle für Kriegstraumatisierte.
Wir sitzen mit Oksana im Garten eines Hauses, das Kamillianer-Patres zur Verfügung gestellt haben. Nach einem arbeitsreichen Vormittag mit den Kindern erzählt sie uns von ihrem Leben. Sie ist eine starke, entschiedene Frau, gleichzeitig verbirgt sie nicht ihre Gefühle. Auf einem Foto zeigt sie uns einen Verwandten, der an der Front kämpft: »Es sind Bedingungen wie für die Soldaten im zweiten Weltkrieg«, und sie erzählt uns vom Schmerz der Eltern, die ihre Kinder im Krieg verloren haben. Jeden Tag, bevor sie die Arbeit mit den Kindern beginnt, geht sie in die Kapelle des Hauses und bittet Gott um die Kraft durchzuhalten. Sie hat Tränen in den Augen.
Einen Tag später ruft sie uns an und bittet uns um das Gebet für den Sohn einer Freundin. Er wurde an die Front gerufen …
In Warschau lernten wir Pater Maciej, den Verantwortlichen des Päpstlichen Missionswerks, kennen und Pater Jacek, einen Steyler Missionar. Er ist für das Zentrum “Fu Shenfu” zuständig, das Migranten unterstützt. Unvergesslich ist auch die Begegnung mit Rika. Sie ist neunzehn Jahre alt und Tochter einer ukrainischen Mutter und eines japanischen Vaters. Bei Ausbruch des Krieges kam sie mit ihrer Familie nach Polen, wo sie früher schon einmal gelebt hat. Nun arbeitet sie seit März in der Sektion »Unterstützung der Ostkirche« des Sekretariats der Polnischen Bischofskonferenz. Dort laufen viele Anfragen zusammen, sei es von Ukrainerinnen und Ukrainern, die Hilfe benötigen, sei es von Polen, die etwas spenden möchten. Rika kann beide Sprachen, eine große Hilfe für die Vernetzung.
In Warschau trafen wir auf Marta. Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt und arbeitet für die Stiftung Fundacja Ocalenie, die seit dem Jahr 2000 Migrantinnen und Migranten in Polen unterstützt. Mit ihr sprachen wir nicht nur über die ukrainischen Flüchtlinge, sondern auch über die Situation an der Grenze zu Weißrussland. Seit über einem Jahr versuchen dort immer mehr Menschen nach Polen einzuwandern. Die Lebensbedingungen im Wald und Sumpfgebiet sind unvorstellbar, die Situation in den Abschiebezentren unmenschlich. Aber nur wenige kritische Stimmen für die Rechte dieser Menschen wurden laut. Suchen nicht auch sie, so wie die Menschen aus der Ukraine, internationalen Schutz und einfach einen sicheren Ort zum Leben?
Krakau: Salam Lab – vom Blog zum Hilfsverein
Unser Weg führte uns weiter nach Krakau. Die Stadt ist geprägt vom Leben zweier zeitgenössischer Heiliger: Johannes Paul II. und Faustina Kowalska.
Dort konnten wir den Verein Salam Lab kennen lernen. Ursprünglich handelte es sich bei dieser Initiative um einen Internet-Blog. Seit einem Jahr und vor allem durch die Situation in der Ukraine entstand daraus ein Hilfsverein. Begonnen hatte alles mit Karol, einem jungen Journalisten. Er erklärte uns auch, worin ihr Einsatz besteht und wie er sich entwickelte. Anfangs kümmerten sich die Freiwilligen um die Erstaufnahme der Geflüchteten. Sie brachten sie in den Räumen eines Theaters unter, dann in geeigneteren Räumlichkeiten, in leer stehenden Wohnungen, die zur Verfügung gestellt wurden, oder sogar privat. Viele aus der Bevölkerung öffneten ihre Türen und nahmen ukrainische Flüchtlinge auf. Außerdem initiierte der Verein mittel- und langfristige Projekte zur Stabilisierung und Integration vor allem von Familien.
Spannend war es auch von der Arbeit mit ukrainischen Roma zu hören. Auch sie sind auf der Flucht und gleichzeitig noch einer starken Diskriminierung ausgesetzt. Marina kümmert sich um sie. Auch hinter ihr steht eine Fluchtgeschichte: sie ist Russin, Geschichtslehrerin und Expertin für Literatur. Seit über einem Jahr lebt sie in Polen. Bis Februar 2022 arbeitete sie als Übersetzerin von Russisch ins Polnische. Als der Krieg ausbrach, wurden sie und drei andere Kollegen entlassen. Bei Salam Lab hat sie eine neue Tätigkeit gefunden. Marina leidet sehr an diesem Krieg und an dem, was in Russland geschieht. Es ist ihr völlig unverständlich, dass es so weit kommen konnte. Ihre einzige Hoffnung ist, dass sich das russische Volk einmal wehren wird. In unseren Gedanken begleitet uns Marina noch lange: Was für eine Kraft und Hoffnung!
Lublin: an der Grenze zur Ukraine
Unser nächstes Ziel hieß Lublin. Ganz in der Nähe lebt Różas Familie, hier ist sie aufgewachsen und studierte Germanistik an der Katholischen Universität. Im Centrum Wolontariatu trafen wir Pater Mietek und seine Mitarbeiter. Seit über zwanzig Jahren kümmern sie sich um Migrierte, Geflüchtete, Obdachlose, Arme und Gefangene. Unter den Mitarbeiterinnen sind z.B. Anastasia, eine ukrainische Studentin, die zu Beginn des Krieges Hilfseinsätze koordinierte und Lidia. Sie kam im März nach Lublin zu ihrer Tochter, die hier studiert. Lidia ist eine energische Frau, sofort nach ihrer Ankunft engagierte sie sich für andere. Momentan organisiert sie einen Kindergarten mit zwanzig Vier- bis Neunjährigen. »Anderen zu helfen, das hat mich gerettet. Sonst wäre ich in meinen Gedanken versunken. Ich träumte davon, viele Enkel zu haben… Jetzt habe ich ganz viele...«. Und die Kinder lieben sie!
In der kleinen Wohnung, die als Kindergarten dient, begegnen wir auch Ania. Sie stammt aus Lwiw in der Ukraine, ist mit einem Polen verheiratet und lebt seit wenigen Monaten in Lublin. Als ausgebildete Psychologin hilft sie traumatisierten Kindern und Frauen. Achtsam beobachtet sie das Verhalten der Kinder, wie sie spielen und miteinander umgehen. So kann sie Zeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung erkennen und darauf einzugehen versuchen.
Unser Weg führte uns auch zur diözesanen Caritas. Dort waren wir mit Paulina verabredet, die für die ehrenamtlichen Mitarbeitenden zuständig ist. Sie erzählte uns von ihrer Arbeit mit den Armen in der Stadt und von den Ereignissen des 24. Februar 2022: Damals kamen Ströme von Flüchtenden… auch Lastwagen mit Lebensmitteln und Lebensnotwendigem aus dem In- und Ausland… Alles, was die Bevölkerung in kürzester Zeit zur Verfügung stellte, musste koordiniert werden: Unterkünfte, Essenspakete, Ehrenamtliche Helfer… In Dorohusk, nahe der ukrainischen Grenze wurde eine Erste-Hilfe-Station eingerichtet. Dort können die Ankommenden versorgt werden und sich ein wenig erholen. Die Grenze kommt auch heute nicht zur Ruhe: die einen versuchen, vor dem Grauen zu fliehen, die anderen wagen es, in ruhigere Gebiete zurückzukehren.
Was bleibt?
In unseren Gedanken bleiben die vielen mutigen Menschen zurück, denen wir in diesen Tagen begegnen durften. Sie erinnern uns an die Worte von Johannes Paul II., die er vor 20 Jahren in Krakau anlässlich der Weihe des neu errichteten »Wallfahrtsortes der göttlichen Barmherzigkeit« gesprochen hatte: »Wie dringend braucht die heutige Welt das Erbarmen Gottes! Aus der Tiefe des menschlichen Leids erhebt sich auf allen Erdteilen der Ruf nach Erbarmen. Wo Hass und Rachsucht vorherrschen, wo Krieg das Leid und den Tod unschuldiger Menschen verursacht, überall dort ist die Gnade des Erbarmens notwendig, um den Geist und das Herz der Menschen zu versöhnen und Frieden herbeizuführen. Wo das Leben und die Würde des Menschen nicht geachtet werden, ist die erbarmende Liebe Gottes nötig, in deren Licht der unfassbare Wert jedes Menschen zum Ausdruck kommt. Wir bedürfen der Barmherzigkeit, damit jede Ungerechtigkeit in der Welt im Glanz der Wahrheit ein Ende findet.«
Wir danken den vielen Menschen in Polen, Einheimischen und Geflüchteten, die sich selbstlos für Migrantinnen und Migranten einsetzen. Frauen wie Oksana, Lidia, Anastasia, Ania und Marina tragen dabei selbst ein schweres Los … Sie waren und sind für uns ein starkes Beispiel der barmherzigen Liebe Gottes, der – wie Papst Franziskus es oft wiederholt – nahe, zärtlich und voll Mitgefühl ist.
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