Auch du bist auf einem Meer unterwegs
Der heilige Johannes Chrysostomos lebte im 4. Jahrhundert n. Chr. und war Bischof von Konstantinopel. Den Beinamen Chrysostomos, was so viel wie ›Gold-Mund‹ heißt, bekam der Kirchenvater aufgrund seiner außerordentlichen Rednerkunst. Das Volk und die Armen verehrten ihn, aber die Mächtigen und Reichen sahen ihre Vorrechte durch ihn gefährdet, was zweimal zu seiner Verbannung aus Konstantinopel führte. Völlig entkräftet starb er auf dem Weg zu seinem letzten Exil. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Text von Johannes Chrysostomos, der uns für die heutige Zeit besonders aktuell erscheint. Der Ausschnitt stammt aus dem Buch von Kardinal Matteo Maria Zuppi mit dem Titel: »Du wirst deinen Nächsten hassen«. Der Untertitel dazu lautet »Wir haben die Geschwisterlichkeit vergessen. Gedanken zu unserer heutigen Angst«.
»So machen es die Schiffer, wenn sie über das weite Meer fahren: Hat das Schiff guten Wind und gleitet ohne Gefahr dahin, dann sind sie voller Freude. Doch wenn sie in der Ferne ein anderes Schiff in Schwierigkeiten sehen, dann ist ihnen das Unglück dieser Fremden nicht gleichgültig. Sie denken nicht an ihren eigenen Vorteil: Sie halten ihr Schiff an, werfen die Anker aus, holen die Segel ein, schleudern Tische und Seile ins Meer. So können sich die in den Wellen Ertrinkenden an dem einen oder anderen festhalten und manch einer überlebt den Schiffbruch. Mach es auch du, oh Mensch, den Schiffern nach: Auch du durchquerst ein großes und unermessliches Meer, nämlich das Meer des Lebens, welches durch viele Ungeheuer, Räuber, Stürme, Felsen und Klippen unsicher und gefährlich ist, und auf welchem auch die meisten Schiffbruch erleiden.
Wenn du also einen Schiffer siehst, der wegen eines teuflischen Zufalls sein Heil verliert, der in den Fluten unterzugehen droht, dann halte dein Schiff an, verlass all deine Geschäfte, eile und sei um sein Heil besorgt. Zaudere nicht, wenn er in Gefahr ist unterzugehen. Eile also, so schnell du kannst, um ihn aus den Fluten herauszuziehen. Tue alles, was du kannst. Würden dich auch tausend Geschäfte woandershin rufen, so halte doch nichts für so notwendig, als die Sorge für diesen Verlorenen. Denn zauderst du auch nur einen Augenblick, so wird er durch den wütenden Sturm umkommen. In solchen Gefahren ist Eilfertigkeit und Eifer notwendig.
Hör nur, wie Paulus, als er einen Menschen sah, der in den Abgrund gezogen wurde, voll Sorge für ihn war und andere ermunterte, ihm die Hand zu bieten. Zeige ihm deine Liebe, sagte er, damit er nicht in allzu große Traurigkeit versinke (2 Kor 2,7). Deswegen mahnt er auch, dass wir ihm ohne Verzug die Hand bieten sollen, so dass er nicht im Unglück versinke, während wir die Hände in den Schoß legen. Wir wollen also für unsere Brüder sorgen. Das ist eine von unseren wichtigsten Aufgaben. Daran erkennt man, ob wir Christen sind, wenn wir nicht nur für uns leben, sondern uns auch um unsere ›kranken Glieder‹ kümmern und um ihr Heil besorgt sind. Das ist der größte Beweis, den wir von unserem Glauben geben können. Daran wird man erkennen, sagt Christus, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt (Joh 13,35).
Die wahre Liebe wird nicht allein durch die Tischgemeinschaft, durch ein kurzes Gespräch oder durch wohlwollende Worte bewiesen, sondern durch den Eifer, mit dem man um das Wohl des Bruders besorgt ist, indem man dem Gefallenen aufhilft, dem Unheilbaren die Hand reicht und mehr das Gute für den anderen als für sich selbst sucht. Die Liebe sorgt sich nicht um das Ihrige, sie dient zuerst dem Nächsten, und durch den Vorteil des Nächsten erhält sie auch den eigenen«.
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