Jedes Land ist mein Land...

11.03.2025
Città del Messico
von Claudia Morales
Internationalen Bildungszentren, Migration, Lebensberichte

Nach mehreren Jahren in Deutschland kehrte Claudia, Mitglied unseres Scalabrini-Säkularinstituts, im August 2024 nach Mexiko-City zurück. Ist das eine »Rückkehr« in ihre »Heimat« oder ein Neuaufbruch? Sie erzählt von ihrer Erfahrung.

»Ich bin eine Frau, eine Migrantin. Nicht die Arbeitssuche zwang mich dazu, meinen Koffer zu packen. Ich ging, um meiner Berufung zu folgen, um Gott und mir selbst treu zu bleiben«, so ein Lied von M. Grazia Luise und der Scalabrini-Band. 

Der Beginn unserer Geschichte als Scalabrini-Säkularinstitut war nicht nur eine Antwort auf die soziale Not vieler Migranten in den 60er Jahren, sondern das Ja zu Gottes Liebe. Um auf sie zu antworten und Jesus nachzufolgen, hat jede von uns die Heimat verlassen und den Neuanfang gewagt.
Wir möchten nicht nur Menschen in der Migration unterstützen, sondern selbst als Migrantinnen leben. Die Zeichen der Zeit in der Welt und die Zeichen Gottes, die wir erfahren dürfen, prägen tagtäglich unseren Weg.

In den vergangenen Jahren konnte ich selbst immer wieder erfahren, was es bedeutet, wegzugehen, anzukommen und immer wieder neu aufzubrechen. Manchmal ohne zu wissen, für wie lange. 
Zur Vorbereitung auf die ewigen Gelübde kam ich von Mexiko nach Stuttgart. Einige Monate lang packte ich meinen Koffer nicht ganz aus. Ich dachte, dass ich ja bald zurückkehren würde. Aber letztendlich dauerte mein Aufenthalt – mit Unterbrechungen - fast zwölf Jahre.

Ein erster und ein zweiter Blick 
Mein erster Blick auf dieses neue Land war der einer durchreisenden Touristin. Voll Neugier war ich daran interessiert, die deutsche Kultur kennenzulernen und diese mir fremde Sprache zu hören. Ich beobachtete die Menschen, die Traditionen, die Landschaften, die Sauberkeit und Ordnung in der Stadt. Ich lernte neue Dinge und schätzte die Menschen und all das Positive, das ich in ihnen sah.
Dauert der Aufenthalt in einem neuen und unbekannten Land jedoch länger, dann beginnt der Alltag. Es kommt die Suche nach einem Arbeitsplatz, aufgrund der anderen Sprache und Kultur entstehen Missverständnisse und man erlebt die Schwierigkeiten der Integration. Die Andersartigkeit der anderen wird nun auch schmerzhaft spürbar.

Als Ausländerin gehörst du zu einer Minderheit, musst oft Nachteile einstecken und bist mit den anderen oft nicht auf Augenhöhe. Außerdem regelt die Aufenthaltsgenehmigung, ob du bleiben darfst oder bald wieder gehen musst. Du stehst vor einer Entscheidung: Entweder du passt dich an und verarmst in deiner Andersartigkeit oder du schaffst es, deinen eigenen, einzigartigen Beitrag in der neuen Gesellschaft zu leisten. Durch meinen langen Aufenthalt in Deutschland konnte ich das Land auch von innen heraus kennenlernen – mit seinen Stärken und Schwächen. So erfuhr ich beispielsweise, dass auch ein wohlhabendes Land verschiedene Formen der Armut kennt. 

Insgesamt begegnete ich vielen offenen und gastfreundlichen Menschen, für die nicht die Unterschiede wie Hautfarbe, Mentalität, Kultur- und Religionszugehörigkeit wichtig waren, sondern der Mensch. Und Menschen sind wir alle.

Ein Miteinander jenseits von Stereotypen
In Deutschland durfte ich auch ganz verschiedene Welten in ein und derselben Gesellschaft kennenlernen. Mein Alltag spielte sich in einem multikulturellen Umfeld ab. Ich begegnete Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen: Migranten und Geflüchtete, international Studierende und Berufstätige verschiedenster Branchen... Im Laufe der Zeit konnte ich auch die einheimische Bevölkerung näher kennenlernen, einfühlsamen und aufgeschlossenen Menschen begegnen, so dass sich meine stereotypen Vorstellungen in Luft auflösten. Im Miteinander entstand eine gegenseitige Offenheit, und ich lernte, den Reichtum jeder Person und deren Kultur zu schätzen. Unterschiede waren kein Grund zur Trennung, und so fühlte ich mich mehr und mehr als Teil der gleichen Menschheitsfamilie.
Während der Treffen in den internationalen Bildungszentren »G.B. Scala-brini« konnte ich immer wieder mit jungen Leuten und Familien, Migranten und Einheimischen auch die tieferen Wünsche teilen, die im Herzen eines jeden Menschen ruhen. Es sind Hoffnungen für sich selbst, die eigenen Familien, aber auch für die ganze Welt. Geflüchtete erzählten mir ihre Geschichten, die nicht nur von Leid und Verlust geprägt waren, sondern auch von einer starken Kraft und Zuversicht. Gott schenkt sie denen, die sich ihm tief anvertrauen. Und ihre Augen spiegelten mir einen Satz Jesu wider: »Ich war fremd, und du hast mich aufgenommen« (vgl. Mt 25,35)
All diese Begegnungen schenkten mir Einblick hinter die Fassaden der Gesellschaft. Sie ließen mich auch erahnen, was G.B. Scalabrini über die Migration als Projekt Gottes dachte, dass nämlich durch die Begegnung verschiedener Völker ein neues Pfingsten entsteht, an dem wir in Christus unsere Einheit finden (vgl. Gal 3,28).

»Jede Fremde ist Heimat…«
Wenn ich auf diese Jahre zurückblicke, fällt mir das Bild des Webstuhls ein. Im alltäglichen Austausch mit meiner Gemeinschaft, mit Geflüchteten, die mir ihr Herz geöffnet haben, mit jungen Migrantinnen und Migranten, mit Einheimischen, … wurden viele Fäden der Freundschaft und Vertrautheit geknüpft. Und so durfte ich erfahren, dass »Heimat« darin besteht, gemeinsam auf dem Weg und geschwisterlich verbunden zu sein, um das Brot des Lebens und Glaubens zu teilen.
»…und jede Heimat wird Fremde«
Nach mehreren Jahren in Stuttgart habe ich nun eine neue Aufgabe in unserer Gemeinschaft in Mexico-City. Diese Rückkehr bedeutet aber gleichzeitig einen Neuanfang. Auch dort, wo vor einigen Jahren mein Leben im Scalabrini-Säkularinstitut begann, ruft mich Gott von Neuem aufzubrechen, »meine Heimat« zu verlassen und mich auf Neues einzulassen. Wie die Bibel von Abraham erzählt, darf auch ich auf Gottes Verheißung vertrauen, nämlich dass er mit mir geht und dass mein Leben Frucht bringt (vgl. Gen 15,5).
Bei meiner Rückkehr musste ich feststellen, wie viel sich verändert hat – vor allem für die Migranten. Mexiko ist zu einem Wartesaal geworden für Menschen, die in die USA einwandern wollen. Sie kommen vor allem aus Mittel- und Südamerika. Darunter sind jedoch auch Mexikaner, die vor dem organisierten Verbrechen fliehen. Und nun werden noch dazu die ersten Folgen der Abschiebepolitik der Trump-Administration spürbar.
Die Welle des Unrechts kann aber die vielen konkreten Zeichen von Solidarität und Geschwisterlichkeit nicht zerstören. Wie viele kleine und große Gesten der Nächstenliebe darf ich erleben: in Migrantenheimen, in Kirchengemeinden und bei Vielen, die die Last der Migranten und Geflüchteten zu erleichtern versuchen. Gemeinsam mit ihnen möchte auch ich mich immer wieder neu auf den Weg machen und Migrantin aus Berufung sein. Denn wir alle sind unterwegs auf unsere künftige Heimat zu, auf Gott, das Ziel, das uns auf unserer Reise ein Stück weit schon entgegenkommt.
 

Andere Artikel und Erfahrungen in: Auf den Wegen des Exodus 2025 n.1 (link)

Ähnliche Blogartikel

27.09.2025
Stuttgart

Internationalen Bildungszentren, Junge Erwachsene, Scalabrini-Fest

Scalabrinifest 2025

Am 27. September hat in Stuttgart das Scalabrinifest der Früchte stattgefunden. Jugendliche, Erwachsene und Familien haben sich zum Thema "Hoffnung bewegt" ausgetauscht.

Weiterlesen

04.03.2025
Rom

Aktuell, Internationalen Bildungszentren, Junge Erwachsene, Migration

Nennen wir einander beim Namen!

»Die neuen Italiener der Diözese Rom und die Herausforderungen der Integration«: So lautet der Titel einer Untersuchung, die von der Diözese Rom zusammen mit dem Forschungsinstitut IRIAD im November 2024 vorgestellt wurde. Dabei geht es darum, jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die in Rom leben, eine Stimme zu geben. Veronica Kallarakal, eine junge Medizinstudentin indischer Herkunft, nahm an dem Forschungprojekt teil und berichtet darüber.

Weiterlesen

15.10.2024
Vietnam

Migration, Lebensberichte

Reisenotizen

Marina, die zurzeit zusammen mit Bianca und Marianne in Vietnam lebt, erzählt von einer Reise, die sie ins zentrale Hochland Vietnams führte. So konnte sie den Hintergrund vieler junger Binnenmigrantinnen und -migranten, die in Ho Chi Minh City wohnen, kennenlernen.

Weiterlesen