Transit- und Zielland Mexiko
Die Bilder von Migranten aus Zentralamerika, die Mexiko in Richtung USA durchqueren, zeigen auch immer mehr Kinder und Minderjährige. Die Statistiken bestätigen dies: ganze Familien sowie unbegleitete Jugendliche und sogar Kinder fliehen aus ihren Heimatländern, in denen sie Armut und Gewalt ausgesetzt sind. Das darf niemanden gleichgültig lassen und konfrontiert uns mit der Frage: Welche Welt wollen wir den künftigen Generationen hin-terlassen?
Auswanderung aus El Salvador, Guatemala und Honduras in Richtung Mexiko und vor allem in die USA ist nichts Neues. In den letzten Jahren haben sich aber deren Art und Weise stark verändert. Es gibt schwerwiegende Gründe, die die Menschen zur Emigration zwingen: extreme Gewalt, Elend, Hunger, Missernten im Kaffeeanbau, Naturkatastrophen durch den Klimawandel und eine immer schwierigere politische Situation (besonders in Honduras und teilweise auch in Guatemala). Hinzu kommen die Fehler in der Außenpolitik Amerikas und Mexikos, die die Situation noch verschlimmern. So stieg nicht nur die Zahl der mittelamerikanischen Migranten an, sondern es hat sich auch ihre Zusammensetzung verändert. Zuvor handelte es sich vor allem um männliche Migranten, heute sind es viele Familien mit Kindern, aber auch unbegleitete Minderjährige.
Zahlen alleine sagen nichts aus
Im Jahr 2013 waren 4% der Menschen, die von US-Amerikanern an der Grenze aufgegriffen wurden, Familien. In den ersten elf Monaten des Jahres 2019 lag ihr Anteil dagegen bei 56%. Die Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen wuchs von 11% auf 14%. In den mexikanischen Statistiken wurden unter den Migranten von Januar bis September 2019 23 000 Kinder und Jugendliche erfasst. 25% von ihnen waren alleine unterwegs. Im Verhältnis zum Vorjahr 2018 bedeutet das eine Steigerung von 130%.
Zahlen alleine aber sagen nichts darüber aus, was eine Flucht oder die illegale Migration für einen jungen Menschen bedeutet. Die Bilder gingen um die Welt, als 2018 Familien auseinandergerissen wurden und Kinder in den USA hinter Gitter landeten. Aber fast Unbeschreibliches geschah auch an der südlichen Grenze zu Mexiko. Familien versuchten dort zu Fuß den Fluss Suchiate zu durchqueren. Er führte zum Glück nicht viel Wasser und die Migranten trugen ihre Kinder auf dem Rücken. Es gab aber auch die panischen Schreie von Kindern während die Nationalgarde Razzien durchführte, um so das Weiterreisen der Migranten Richtung Norden zu verhindern. Was wird in den Gedanken und im Herzen dieser Kinder zu-rückbleiben? Welche Traumata werden sie ihr Leben lang begleiten?
Wer es illegal versucht, riskiert sehr viel – oft das Leben
Viele Kinder und Jugendliche fliehen allein oder mit ihrer Familie, um in ihrer Heimat nicht von kriminellen Gangs, den Pandillas oder Maras, rekrutiert zu werden, die sie mit dem Tod bedrohen. Gleichzeitig ist jedoch auch die Flucht und die Durchquerung Mexikos lebensgefährlich. Kinder und Jugendliche sind eine leichte Beute für Erpresser oder mafiöse Banden, die sie zwingen, sich ihnen anzuschließen. Die internationale Kinderorganisation UNICEF unterstreicht, dass besonders Minderjährige Gewalt und Diskriminierung, Hunger und Kälte ausgesetzt sind und kaum Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Sie verurteilt darüber hinaus ihre Gefangennahme und deren Bedingungen, wenn sie auf dem Weg aufgegriffen werden.
Das ersehnte Ziel ist für viele die USA, aber der Weg dorthin wird immer länger und schwieriger. Monatelang müssen Männer, Frauen, Jugendlichen und Kinder nachdem sie einen Asylantrag gestellt haben vor der Grenze auf Antwort warten. Wer es illegal versucht, riskiert sehr viel – oft das Leben. Hilfsorganisationen wie die »Häuser der Migranten« (Casas del Migrante) und zivilgesellschaftliche Gruppen suchen nach Wegen, wie sie die Familien und unbegleiteten Minderjährigen unterstützen können. Notwendig sind auch die Verteidigung der Kinderrechte, Rechtsschutz, medizinische Versorgung und psychologische Betreuung für Traumatisierte. Und wie steht es um die Schulbildung der Kinder und Jugendlichen? Auch Erziehungs- und Bildungsprogramme für die unbegleiteten Minderjährigen wären vonnöten.
»Haus der Migranten« in Mexico City
Solange es vor der Corona-Krise noch möglich war, trafen wir im »Haus der Migranten« der Scalabrini Missionare viele Familien mit Kindern. Eine Lehrerin bot dort vormittags Unterricht an. Am Nachmittag und vor allem an den Wochenenden gab es aber kein Programm.
Mit Hilfe mexikanischer Studierender konnten wir für diese Zeit Spiele und andere Aktivitäten organisieren. Für die Kinder und Jugendlichen waren das wichtige Momente. Manche von ihnen waren sehr still, ja, verschlossen. Wer weiß, was sie zu Hause oder unterwegs erlebt hatten ... Von einigen wissen wir, dass sie Gewalt erfuhren. Sie zogen sich zurück und nur in persönlichen Gesprächen unter vier Augen öffneten sie sich ein wenig. Andere waren gierig nach Wissen, wollten lernen, so wie Wendy. Sie ist 13 Jahre alt und mit ihrem Vater unterwegs, der sehr fürsorglich ist. Wir begegneten auch dem 16jährigen Moise mit seiner Mutter und zwei Onkeln. Sie sind aus dem Kongo geflohen. Moise hat große Träume für die Zukunft und will einmal ein berühmter Fußballer werden.Viele Kinder leiden unter den ärmlichen Bedingungen, verstehen nicht, warum sie plötzlich kein Zuhause mehr haben und kontinuierlich den Ort wechseln müssen, warum sie ihre Verwandten und Freunde nicht mehr sehen können, nicht mehr zur Schule gehen dürfen, ihre gewohnte Umgebung verlassen mussten. Sie spüren die Angst ihrer Eltern, die ihnen die Sicherheit nicht schenken können, die sie als Kinder eigentlich so dringend bräuchten. Besondere Schwierigkeiten tauchen oft in Patchwork-Familien auf, in anderen kommt es unterwegs zu größeren Problemen zwischen den Eltern. Gespannte innerfamiliäre Beziehungen schlagen sich auf die Kinder nieder. Es gibt aber auch Familien mit einem starken inneren Zusammenhalt, bei denen die älteren Kinder auf die jüngeren aufpassen und ihre Eltern unterstützen.
Der zunehmend wachsende Übergang von einer Migration, die vor allem aus allein reisenden Männern bestand, hin zur Migration ganzer Familien und unbegleiteter Minderjähriger verlangt Veränderungen bei den Unterstützungsprojekten. Neue Hilfsangebote sind gefragt, die dabei helfen, dass Familien zusammenbleiben können. Ihre inneren und äußeren Spannungen müssen ernst genommen werden, die Schwächsten sollten stärker ins Blickfeld geraten, an die Erziehung und Bildung der jungen Menschen muss gedacht werden usw.Die Migrationspolitik in Mexiko verändert sich ständig. Schon vor der Pandemie stand sie un-ter ständigem Druck der US-Regierung. Es ist schwierig, einen Blick in die Zukunft zu wagen. Auf jeden Fall machen die zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen mit ihren Projekten und Initiativen weiter. Vor allem die Minderjährigen brauchen Unterstützung. Sie müssen positive Erfahrungen von Aufnahme und Mitgefühl machen, damit sie sich als Menschen entwickeln können und eine Zukunft haben.
Luisa Deponti
Links:
Zeitschrift Auf den Wegen des Exodus (PDF)
Zeitschrift Auf den Wegen des Exodus (ARCHIV)
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