Wer nach dem Leben sucht, verändert die Welt
Man schätzt, dass in den vergangenen Jahren zirka 400 000 Migranten pro Jahr die Südgrenze Mexikos überquert haben, um sich dann Richtung USA auf den Weg zu machen. Die meisten Menschen stammten aus Ländern Mittelamerikas, dem sogenannten ›Nördlichen Dreieck‹: Guatemala, Honduras und El Salvador. Es kamen aber auch Migranten aus Kuba, Haiti, aus dem afrikanischen und asiatischen Kontinent.
Migrationsgründe für Mittelamerikaner sind vor allem extreme Armut und Gewalt, aber auch Naturkatastrophen bedingt durch den Klimawandel. Ganze Familien sogar mit Kleinkindern brachen auf. Ihre Zahl sticht in der Statistik hervor. Die drei Länder des nördlichen Dreiecks mit zirka 32 Millionen Bewohnern, sind bis heute in ihrem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben durch die Gewaltherrschaft der 60er bis 90er Jahre gezeichnet. Durch Unterstützung der USA kamen die politischen Eliten wieder an die Macht. Sie halten be-wusst das soziale Ungleichgewicht aufrecht. Die Wirtschaftspolitik fördert die multinationalen Firmen, die sich der natürlichen Ressourcen bemächtigen. Neben diesen Problemen wuchs die Gewalt durch kriminelle Banden, die sogenannten pandillas. Auf ihr Konto gehen Entführungen, Morddrohungen und gewaltsame Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen.
Wachsende Herausforderungen
Seit einigen Jahren verfolgt die USA eine Strategie der «Externalisierung der Grenzen», ähnlich z.B. der Europäischen Union mit der Türkei und den nordafrikanischen Ländern. Mexiko wird politisch und wirtschaftlich unter Druck gesetzt, aber auch die mittelamerikanischen Länder. Ihnen soll bereits die Aufgabe zukommen, durchziehende Migranten zu stoppen.Es ist noch nicht lange her, da spielten die vielen Kontrollstellen, die vom Nationalen Migrationsinstitut und von der mexikanischen Bundespolizei errichtet wurden, den gewissenlosen Menschenschmugglern in die Hände. Nur mit deren zweifelhafter und teurer Hilfe konnten die Migranten Mexiko durchqueren und die Grenze zur USA erreichen. Wer es alleine wagte, riskierte viel: Raub, Verletzung, Entführung, Vergewaltigung, Ermordung.
In der Masse der »menschlichen Karawanen« war man in gewisser Weise besser geschützt. Man war nicht mehr »unsichtbar« und völlig verloren. Nichtregierungsorganisa-tionen und staatliche Institutionen, wie auch die Medien wurden auf die Migranten aufmerksam. Im Dezember 2018 kam es außerdem zu einem Regierungswechsel. Der neue mexikanische Präsident, Andrés Manuel López Obrador äußerte die Absicht, die Migrationspolitik zu verändern. Die Menschenrechte sollten respektiert und eine Entwicklungs-zusammenarbeit mit den anderen mittelamerikanischen Ländern begonnen werden, um so auch die Gründe der Migration zu verringern. In den ersten Monaten von 2019 wurden Migranten, die an der Südgrenze Mexikos ankamen, humanitäre Visa ausgestellt. Damit konnten sie sich in Mexiko frei Richtung Norden bewegen.Die neue Regierung war sich aber der Komplexität der Migration nicht bewusst und vor allem nicht der möglichen Reaktionen der Trump-Regierung.
In Mittelamerika verschlechterten sich die Lebensbedingungen. Ebenso führte die Möglichkeit, Mexiko einigermaßen geschützt zu durchqueren, zu einer beträchtlichen Zunahme von Migranten und Asylsuchenden. Vor allem die südlichen Landesteile kamen an ihr Limit, all die Menschen auf-zunehmen. Gleichzeitig versäumte es die Regierung erfolgreiche humanitäre Handlungsstrategien umzusetzen. Vor allem die Zivilgesellschaft, die Kirchen und die lokale Bevölkerung kam den Migranten zu Hilfe. Doch bereits im März war die Situation unhaltbar. Die Folge war, dass die Regierung keine humanitären Visa mehr ausstellte. Migranten und Asylsuchende wurden nun an der Südgrenze zurückgewiesen. Manche kamen in Haftanstalten, wo die Lebensbedingungen unerträglich waren. Trotzdem machten sich immer noch viele auf den Weg Richtung Norden. Dort wurde ihr Leben aber zum Albtraum.
Die Grenzstädte werden allesamt brutal von der Drogenmafia beherrscht. Ihr finden sich die verschiedensten Arten von Migranten ausgesetzt, die Aus-länder und Mexikaner, die immer wieder illegal versuchen die Grenze zu überwinden, die, die aus der USA ausgewiesen wurden und nun vor dem Nichts stehen, die Asylbewerber, die darauf warten, den amerikanischen Behörden ihren Antrag stellen zu können, oder deren Antrag in Bearbei-tung ist und die nun warten müssen. Gemäß einer Übereinkunft beider Länder, der sogenannten «Quédate en México» (auf Deutsch «Bleibe in Mexiko») müssen die Antragsteller nämlich auf der mexikanischen Seite auf ihre Antwort aus den USA warten. Zurzeit dauert das im Schnitt 700 Tage.
Ein sicheres Drittland?
Im Jahr 2019 verstärkte die Trump-Regierung den Druck auf Mexiko. Einen Höhepunkt erreichte er, als man damit drohte, auf alle Exportartikel aus Mexiko in die USA Schutzzölle von fünf Prozent zu verlangen, wenn nicht Mexiko die Zahl der Migranten an seiner Nordgrenze drastisch re-duziere. Mexiko exportiert zirka 80 Prozent seiner Waren in die USA und so dauerte es nicht lange, bis Maßnahmen zur Eindämmung der Transit-Migration ergriffen wurden. Tausende nationale Grenzschützer wurden in die südlichen Regionen gesandt, um schon dort die Migranten zurück-zudrängen. Es kam zu Massenverhaftungen, Razzien und Ausweisungen unter gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Trumps Ziel ist es, Mexiko als »sicheres Drittland« zu deklarieren. Das würde bedeuten, dass alle Menschen, die über diese Grenze in die USA kommen, dort keinen Asylantrag mehr stellen können. Honduras und Guatemala haben dem bereits zugestimmt.
Diese politische Entwicklung führt dazu, dass Mexiko immer häufiger zum Zielland für Asylsuchende wird. Während 2014 nur 2‘137 Asylanträge gestellt wurden, waren es 2018 bereits 29‘631 und in den ersten zehn Monaten von 2019 insgesamt 62‘299. Die Flüchtlingsorganisation der UNO (UNHCR) betreibt seitdem Integrations- und Ansiedlungsprojekte für Flüchtlinge aus dem Süden, die in die Städte Mexikos ziehen. Denn dort hoffen sie Arbeit und für ihre Kinder Bildungsmöglichkeiten zu finden.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
»Wer das Leben sucht, verändert die Welt«, so die Worte von Amarela Varela Huerte, einer mexikanischen Wissenschaftlerin und Aktivistin im Bereich der Migration. Neben der politischen Entwicklung, die zu Barrieren und Gewalt führt, vertreten die Migranten eine zukunftsorientierte ›Politik‹, die Leben retten will: das eigene, aber auch das ihrer Familien. Sie geben nicht auf, ändern ihr Vorgehen und die Routen, sie verweilen und brechen wieder auf – immer mit diesem Ziel vor Augen.Die katholische Kirche von Mexiko setzt sich gemeinsam mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft seit langer Zeit dafür ein, dass sich die Situation verbessert. In den vergangenen Jahrzehnten sind viele »Häuser für Migranten«, casas del migrante, im ganzen Land entstanden. Viele werden von kirchlichen Organisationen unterhalten. Dort bekommen die Migranten menschliche Hilfe, Essen, Unterkunft Kleidung, medizinische Versorgung etc., aber auch juristische Unterstützung. Für Menschen, die ohne Bleibe und unterwegs sind, ist das lebenswichtig. Die Pfarreien, ja die ganze Kirche in Mexiko, versucht wirklich die Verben zu verwirklichen, die Papst Franziskus lanciert hat: ›aufnehmen‹ und ›schützen‹. Seitdem sich nun auch viele Migranten in Mexiko niederlassen, werden auch noch die anderen beiden wichtig: ›fördern‹ und ›integrieren‹.
Gemeinsam mit jungen Mexikanerinnen und Mexikanern arbeitet unsere kleine Gemeinschaft vor Ort mit einigen der Casas del migrante zusammen. Dort versucht man wirklich Migranten und Geflüchtete zu fördern und sie bei der Integration zu unterstützen. Es gibt Sprach- und Bildungskurse, Versuche, Ausbildungsdiplome anerkennen zu lassen, und es wird bei der Suche nach Arbeit und Unterkunft geholfen... Bemerkenswert ist auch das Engagement der Geflüchteten selbst. Verschiedene Mittelamerikaner, aber auch Kongolesen, die wir im vergangenen Jahr kennenlernten, haben inzwischen Arbeit gefunden. Doch vor allem für diejenigen, die besonders verletzlich sind, z.B. Kranke oder Familien mit Kindern, genügt die humanitäre Aufnahme für begrenzte Zeit nicht. Sie brauchen langfristige Projekte und auch Menschen vor Ort, die ihnen kompetent zur Seite stehen.
Für das Wohl aller Menschen
So liegt die große Herausforderung vor allem darin, die lokale Bevölkerung zu sensibilisieren. Diese hat keine Erfahrung damit, Fremde in ihre Gesellschaft aufzunehmen. Die Förderung und Integration von Migranten wird verhindert durch weit verbreitete negative Schlagzeilen. Sie führen zu Angst und Ablehnung seitens der Einheimischen. Seit wir als kleine Gemeinschaft in Mexiko anwesend sind, liegt unser Schwerpunkt vor allem auf der Bildungsarbeit. Deshalb fördern wir mit großem Einsatz die Begegnung von jungen Mexikanerinnen und Mexikanern mit Geflüchte-ten und Migranten in unserem Centro Internacional Misionero Scalabrini(CIMS).
Weiterhin sind wir auch mit Workshops und Vorlesungen zum Thema Migration in den Fakultäten für Soziale Arbeit, Gesundheitspersonal, Sozial- und Politikwissenschaften der «Autonomen Nationalen Universität von Mexiko» (UNAM) präsent. Wir besuchen aber auch Pfarreien und Jugendgruppen. Bei der Organisation eines interkulturellen Treffes zur Sensibilisierung für Migration wählten Studierende sogar als Thema einen Liedtitel der Scalabriniband aus: «Wenn du die Welt verändern willst, dann verändere deinen Blick».
Viele Menschen sind solidarisch mit Migranten und Geflüchteten, das erleben wir immer wieder. Vor allem junge Leute möchten mit ihren Fähigkeiten und Talenten zu einer gerechteren, offeneren Gesellschaft für alle beitragen. Die aktuelle Lage ist sicherlich komplex und kompliziert, als Christinnen und Christen können wir aber auch darin eine Herausforderung für ein neues, kreatives Miteinander erkennen. Das gilt in Bezug auf die Migranten und damit auch für das Wohl aller Menschen.
Luisa Deponti
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